Gedenkveranstaltung 70 Jahre nach Kriegsende – der „vergessene Holocaust“

14:00 Uhr: Kranzniederlegung am Mahnmal Rüschweg/Neßpriel mit „Isle of Gospel“
15:00 Uhr: Elternschule, Norderschulweg 7
 

Wegbereiter und Täter
Prof. Dr. Otmar Freiherr von Verschuer war der führende Rassenhygieniker der NS-Zeit und ab 1942 Direktor des Kaiser-Wilhelm Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik. Der Machtantritt der Nazis bot ihm die Möglichkeit, seine auf elitären, rassistischen und inhumanen Grundsätzen beruhenden Forschungen voranzutreiben.

Prof. Dr. Fritz Lenz gründete bereits 1909 mit Eugen Fischer eine Ortsgruppe der Gesellschaft für Rassenhygiene. Mit dem Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene 1921, wurde er in der Weimarer Zeit eine zentrale Figur für Rassenfragen. Er unterschied zwischen minderwertigem oder gar unwertem Leben als Vordenker der Vernichtung. Er schuf die geistigen Voraussetzungen und gab die akademischen Weihen für die grausamen Taten gegen Menschen, denen er das Lebensrecht absprach.

Dr. Dr. habil. Robert Ritter trat noch als Schüler 1918 in ein Freikorps ein. Er beginnt seine medizinische Karriere in der Jugendpsychiatrie, zuständig für die Begutachtung von schwer erziehbaren Jugendlichen. Später profilierte er sich als Wissenschaftler auf dem in NS-Zeiten so prestigeträchtigem Feld der Rassenhygiene. Er wird Institutsdirektor bei der neu geschaffenen Rassenhygienischen und Bevölkerungsbiologischen Forschungsstelle und überzeugt die Nazis von radikalen Maßnahmen gegenüber „Fremdrassigen“.

Artur Nebe begann nach dem ersten Weltkrieg den Dienst bei der Berliner Polizei. 1931 trat er, trotz formellen Verbots, der NSDAP bei, wurde förderndes Mitglied der SS und SA-Mann. 1933 setzte Nebe früh auf die Machtkonstellation Himmler und Heydrich und machte schnell Karriere. Als Leiter des Reichskriminalpolizeiamtes war er für die polizeiliche Erfassung, Überwachung und spätere Deportation der Sinti und Roma zuständig. Als Chef der Einsatzgruppe B war Nebe verantwortlich für den Mord an 45.000 Menschen. Hierzu gehören auch Gas-und Sprengversuche an geistig Behinderte in Minsk und Mogilew. Nebe selbst schlug vor, Sinti und Roma für Kälteschock- und Meerwasserversuche zu missbrauchen. Der sehr geschmeidige Nebe fiel wegen seiner Kontakte zu Personen des Widerstands 1944 bei Himmler in Ungnade. Anfang März 1945 wurde er nach einem nichtöffentlichen Verfahren vor dem Volksgerichtshof hingerichtet

Prof. Dr. Hermann Lundborg: Der schwedische Arzt und Forscher war seit 1921 Professor für Rassenbiologie an der Universität in Uppsala und Ideengeber und Gründungsdirektor des Staatlichen Rassenbiologischen Instituts. Er lud deutsche Forscher wie Fritz Lenz, Erwin Bauer, Otmar von Verschuer zu Vorlesungen ein. Es gab einen regen Austausch. Einer der ersten Besucher war Eugen Fischer. Er zeigte sich sehr beeindruckt von der umfangreichen und gut sortierten Fotosammlung lappländischer, finnischer und nordischer Rassentypologie, insbesondere der Nacktaufnahmen. Lundborg führte Messungen an der Bevölkerung in ganz Schweden durch und sammelte Daten von über 100.00 Personen — mit einer durchdachten Dokumentation und mit statistischen Angaben, die den Deutschen als Vorbild für ihre Rassenerfassung dienten.
 

Die Zeit nach 1945
Während nach 1945 die Verfolger und Peiniger juristisch nicht zur Verantwortung gezogen wurden, ihre Karrieren fortsetzten und, als Gutachter bestellt, die Entschädigung der Opfer verhinderten, blieben in der deutschen Mehrheitsgesellschaft die alten rassistischen Vorurteile und Diskriminierungen gegenüber den Sinti und Roma ungebrochen erhalten. Die überlebenden Opfer und ihre Nachkommen mussten sich selbst weitgehend ohne Unterstützung durch andere gesellschaftliche Gruppen gegen Benachteiligungen und Diskriminierungen verteidigen.
Obwohl beim Nürnberger Prozess 1946 die Roma und Sinti laut Anklage als Opfer des systematischen Mordprogramms der NS-Rassenideologie galten, erreichten sie erst 1982 ihre offizielle Anerkennung als Opfer eines Völkermords durch die Bundesrepublik. Die soziale Situation der Sinti und Roma in Deutschland und Europa bleibt weiterhin prekär und gefährdet, besonders in ökonomischen und politischen Krisenzeiten wie den gegenwärtigen. Vor allem sind die alten Begriffe und Zuschreibungen aus dem heutigen Sprachgebrauch zu streichen, die für die Menschen dieser Minderheiten absichtlich diskriminierend gewählt wurden, um ihre Ausgrenzung bis zum Mord zu legitimieren. (Daten und Texte aus der Dokumentation des Theater-Projekts 2015 „ZUR ENDLÖSUG DER ZIGEUNERFRAGE“ vom HISTORIKERLABOR Forschen/Darstellen/Erinnern)

Die Verfolgung der Sinti und Roma unter den Nationalsozialisten hat erst sehr spät Aufmerksamkeit in Deutschland bekommen. Stattdessen wurden Diskriminierung und Verfolgung lange über 1945 hinaus fortgesetzt. Oftmals mit den Personen aus Justiz, Kriminalpolizei und Verwaltung, die bereits in der NS-Zeit hierfür zuständig waren und/oder daran mitgewirkt hatten. Erst die Aufsehen erregenden Aktionen dieser Opfergruppen in Bergen-Belsen und Dachau 1979 und 1980 zeigten Erfolge.

1982 erkannte der Bundeskanzler Helmut Schmidt als erster deutscher Spitzenpolitiker die NS-Verfolgung als rassistisch motivierten Völkermord an. In der Folge konnten immerhin einige Überlebende ihre Ansprüche auf bis dahin verweigerte Entschädigungszahlungen durchsetzen.
Das zentrale Mahnmal zum Gedenken an ihre Opfer wurde erst 2012 nach jahrelangen, entwürdigenden Debatten über die Inschrift in Berlin eingeweiht.

Am 27. Januar 2011 hielt das erste Mal ein Sinto, der Unternehmer Zoni Weisz aus den Niederlanden, im deutschen Bundestag eine Rede zum Gedenktag für die Opfer der Nationalsozialismus und nannte den Völkermord an den Sinti und Roma den „Vergessenen Holocaust“. Er beklagte, dass angesichts der aktuellen Benachteiligungen von Sinti und Roma in weiten Teilen Europas wenig aus dem Verbrechen gelernt worden sei.
 

Ausgrenzung und Genozid an den Sinti und Roma in Europa 1933 – 1945

Die Zahl der im nationalsozialistisch besetzten Europa und in den mit Hitler-Deutschland verbündeten Staaten ermordeten Sinti und Roma wird auf eine halbe Million geschätzt. Von den 35.000 bis 40.000 erfassten deutschen und österreichischen Sinti und Roma werden etwa 25.000 ermordet.

Seit 1996 wird jeweils am 27. Januar bundesweit der Opfer des Nationalsozialismus gedacht und an den Holocaust erinnert. Nur wenigen ist bewusst, dass auch Sinti und Roma massenhaft verfolgt und ermordet wurden. Die NS-Rassenideologie war nicht einer Wahnidee Hitlers entsprungen. Schon lange vor dem NS-Machtantritt konstruierten „Rassenforscher“ „Rassensysteme“, die die Nazis für ihre Rassenpolitik übernahmen. Anthropologen, Mediziner, Psychologen und Juristen, die sich selbst zu den „rassisch Wertvollen“ zählten, beanspruchten die Definitionsmacht über Menschen, denen sie biologische und kulturelle „Minderwertigkeit“ im Vergleich zur „Überlegenheit“ der europäischen „Hochrasse der Arier“ unterstellten. Die „Ungleichheit“ von Menschen behaupteten sie, beruhe auf unveränderlichen Erbanlagen. Als Berater der NS-Politik propagierten sie Juden sowie Sinti und Roma als „Fremdkörper“ aus dem „deutschen Volkskörper“ zu entfernen und hatten keine Skrupel, sie in den Lagern für ihre „Forschungen“ zu missbrauchen.

V.i.S.s.d.P.: Finkenwerder Geschichtswerkstatt, Helrnke Kaufner, Carsten-Fock-Weg 12. 21129 Hamburg